Die Schere und die Trauer

In meinen Reden bei Trauerzeremonien spreche ich oft von den Spuren, die unsere Verstorbenen in uns und unserem Leben hinterlassen. Spuren, die für immer bleiben. Dass diese Spuren auch ganz unerwartet auftauchen können, habe ich kürzlich selbst erlebt.

Ich habe eine Phase, in der ich sehr oft und voller Trauer an meine verstorbenen Eltern denke. Mein Vater starb 2009 und meine Mutter erst im letzten Oktober. Natürlich war da großer Schmerz; sie hat mich mein ganzes Leben lang begleitet. Es war nicht immer einfach zwischen uns und wir hatten so manchen Kampf miteinander. Vieles war nie ausgesprochen worden, was mich oft belastet hat. Aber bei all dem war uns beiden immer klar, dass wir uns lieb hatten. Dieses zärtliche Gefühl füreinander stand in den letzten Jahren ihres Lebens im Vordergrund.

Sie war nicht mehr die kräftige, manchmal schroffe Frau von früher – sie war kleiner geworden, viel dünner, ganz weißhaarig, und die liebenswerte Seite ihres Charakters wurde sehr deutlich. Ihre Hände waren im hohen Alter nur noch von Haut bedeckt. Man konnte jeden Knochen und jede Ader sehen. Trotzdem waren sie für mich immer noch schön. Ich sah sie mir oft an, wenn ich bei ihr saß und sie ihre Hand in meine legte. Ich erinnerte mich daran, wie liebevoll sie mir über das Gesicht streicheln konnte. Ich sah ihre Hände, wie sie ihren berühmten ostpreußischen Pfefferkuchen buk oder das Geschirr spülte.

Um ihre schönen Hände habe ich sie oft beneidet. Ich habe eher die nicht sehr femininen Finger, mit sehr kleinen, fast quadratischen Nägeln ausgestattet, von meinem Vater.

Als meine  Mutter starb, war sie 96 Jahre alt. Sie hat nicht gelitten, ist einfach immer weniger geworden, bis sie friedlich im Schlaf ging. Sie war zufrieden mit ihrem Leben und ich bin sicher, auch mit ihrem Tod.

Und doch ist da manchmal das Gefühl, ihr das alles erzählen zu wollen. Dass meine Mama gestorben ist. Um zu hören, was sie dazu sagt und mich vielleicht tröstet. Ich möchte ihr Neuigkeiten aus meinem Leben berichten, wie ich es immer getan habe, wenn ich sie besuchte.

Doch es ist eigentlich nicht allzu schwer, sich den Tod eines so alten Menschen ins Bewusstsein zu holen. Ich habe also ein Leben  begonnen, in dem meine Mutter in meinem Herzen und meiner Seele ist, wie immer. Aber in diesem Leben kann ich sie nicht mehr sehen und berühren. Wenn ich mir das bewusst mache, empfinde ich nach wie vor einen großen Schmerz und Sehnsucht – ich trauere um sie.

Das Leben geht weiter – in all seiner profanen Alltäglichkeit

Ich war in der Kölner Innenstadt, um eine neue Schöpfkelle zu kaufen. Die alte war aus Plastik und hatte sich schon fast zur Hälfte aufgelöst. Ich hatte so richtig Lust, ein bisschen in der Haushaltsabteilung des Kaufhaues zu stöbern. Kennst du das? Du hast genügend Zeit, der Kontostand ist auch halbwegs in Ordnung und vielleicht findest du ja noch etwas, von dem du gar nicht wusstest, dass du es brauchst.

Gute Laune, ein großes Kaufhaus und das Alltagsabenteuer wartet. Ich sah mir wunderschöne Kochtöpfe an, Pfannen, Espressokannen und alles Mögliche.

Plötzlich fiel mein Blick auf eine Küchenschere, die einfach an einem Aufsteller hing, zusammen mit anderen in den aberwitzigsten Formen.

Es dauerte in paar Sekunden, bis ich realisiert hatte, warum. Das war genau die Schere, die meine Eltern früher in der Küchenschublade hatten und die ich immer gut fand. Sie war aus Stahl, mit roten Kunststoff beschichtet. Die meiner Eltern war schwarz gewesen. Im ersten Augenblick war ich total erstarrt. Als ob das genau diese eine Schere war und nicht nur eine aus der gleichen Produktion.

Trauer geht oft seltsame Wege

Das Ganze lief innerhalb kürzester Zeit in meinem Kopf ab und dann hatte ich sie auch schon in der Hand und, um ehrlich zu sein, drückte ich sie an meine Brust, atmete tief ein und ging weiter. In diesem Augenblick bedeutete mir die Schere unglaublich viel, als hätte ich ein kostbares Geschenk bekommen. Dass sie wirklich teuer war, war mir völlig egal, das ist mir auch erst zu Hause aufgefallen. Wichtig war, dass ich diese Schere jetzt besaß. Sie hat schöne Erinnerungen zum Leben erweckt:

Viele Jahre habe ich oft in der Küche meiner Eltern zusammen mit ihnen gekocht, Kaffee gemacht, oder einfach nur mit ihnen zusammengesessen. Mit müden Augen bin ich in die Küche gekommen, wo das Frühstück schon auf mich wartete. Diese Küche war – wie in vielen Familien – der Raum, in dem sich alle trafen. Hier sind meine Nichten groß geworden, weil sie oft bei Oma und Opa waren. Die Schere ist ein Symbol für diese Zeit und für die Menschen, nach denen ich mich immer noch sehne. Dass die Schere nicht dieselbe ist, ist mir nicht wichtig. Sie steht jetzt sichtbar im Messerblock, wenn ich sie nicht gerade benutze. Ich habe mit ihr einen kleinen Anker in der Küche, der mich mit einzigartigen Erinnerungen verbindet. Das hat in der Tat meine Trauer ein wenig leichter gemacht.

 

Brauchst du Hilfe in der Trauer? Es gibt in vielen Städten Angebote für Trauernde. Das können sogenannte Trauercafés sein oder Trauergruppen, aber auch Einzelbegleitungen. Manchmal gibt es auch Online-Angebote. Informier dich im Internet. Die Trauerbegleiterin und Fachbuchautorin Chris Paul hat gesagt: "Trauer ist nicht das Problem, sondern die Lösung."
Das Trauerkaleidoskop von Chris Paul
Endlich. Über Trauer reden.

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